Sonntag, 1. Juli 2018

Hallo meine lieben Freunde,

ein neuer Roman am Bücherhimmel - diesmal über die Medizin - spannend und anregend - 

DIE CHARITÈ 

von Ulrike Schweikert. Sehr lesenswert - lest selbst, was ich dazu zu sagen habe:



„Die Tage waren so angefüllt mit Arbeit und Entscheidungen. Sie lief treppauf, treppab, trug Essen hin und her, schleppte Wasser, wechselte Verbände und wusch Patienten. Sie half bei Operationen und wachte bei Sterbenden, erlebte Schmerz und Trauer, Verzweiflung, aber auch Glück und Erleichterung.“ Dieses Zitat von S. 421 stelle ich hier an den Anfang, es beschreibt sehr gut den Alltag und mehr der Krankenwärterinnen und –wärter der Charité, wie sie damals genannt wurden.
Vor der authentischen Kulisse der Stadt  Berlin von 1831 und den Folgejahren entwickelt Schweikert ihr faszinierendes Bild der damaligen Zeit. Nicht nur um die Charité allein geht es in dieser fesselnden Geschichte.  Viele Persönlichkeiten haben ihren Auftritt oder werden namentlich erwähnt wie z. B. der Dichter Heinrich Heine, dann Napoleon Bonaparte, der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Minister von Stein, dessen Reformen die finanziellen Verhältnisse der Charité empfindlich stören, die Brüder Humboldt, Rahel Varnhagen und nicht zuletzt Friedrich Wilhelm III. All diese Erwähnungen tragen dazu bei, dass das Szenario lebendig und echt erscheint. Sie alle spielen mit in dieser Versammlung von Persönlichkeiten, die den  Hintergrund bilden für die Geschichten aus dem Leben der  Protagonisten, die hier die Handlung vorantreiben und „Sternstunden der Medizin“ erleben dürfen. Die politischen Verhältnisse werden angerissen.  Wie die Menschen vor dieser Kulisse handeln, durch die Umstände gezwungen, wird eindringlich dargestellt. Da ist Prof. Dieffenbach, ein hervorragender Chirurg seiner Zeit, der vielen Menschen half,  Gesichtsentstellungen wie Hasenscharte oder Wolfsrachen zu normalisieren. Er war auch Vorreiter der Augenoperation beim Schielen und anderer mehr. Er teilt ein Geheimnis mit der Hebamme Vogelsang, die aus ärmlichsten und leidvollen Verhältnissen das Ihre tut, das Leiden armer schwangerer Frauen zu lindern. Elisabeth, ihre Freundin, wird Krankenwärterin in der Charité. Umgeben von anderen Wärterinnen, die mitleidlos und ohne Fachkenntnis roh die Kranken versorgen, zeigt sie sich bald als herausragende  Wärterin, die ihre Kritik an den Verhältnissen  nicht versteckt, sondern mutig vertritt. Ihr größter Wunsch, selbst Ärztin zu werden, lässt die Zeit, in der sie lebt, nicht zu. Sie besitzt bald eine Vorrangstellung durch ihr auffallendes Engagement, das ihr oft den Neid und die Missgunst anderer Wärterinnen einträgt. Diese Wärterinnen sind hauptsächlich unausgebildete Frauen und Männer mit geringer Schulbildung, die den Patienten anstatt mit Empathie mit grobem und herzlosem Jargon entgegentreten.
Aus Elisabeths  Vorschlägen und  Gesprächen Professor Dieffenbachs mit seiner Patientin und Freundin Gräfin Ludovica, reift der Plan, eine Krankenwärter Pflegeschule zu gründen und Personal mit Fachkenntnissen zu auszubilden. 
Manche Szenen und Beschreibungen der vergangenen Verhältnisse der medizinischen Forschung lassen einen schaudern und fragen, wie haben es Patienten sowie ihre Ärzte und Wärterinnen bloß ertragen können? Die Beschreibungen der Operationen ohne Narkose! im Hörsaal vor den Studenten erinnern an alte Gemälde, besonders an das von Rembrandt „The Anatomy Lesson of Dr. Nicolaes Tulp“. Mehrere starke Männer, Arztkollegen,  hielten die Patienten fest, damit die Chirurgen die Schnitte ausführen konnten. Die Intensität der Darstellungen vom Vorgehen der Ärzte und Krankenwärter zur Zeit des damaligen Standes der Medizin sind meisterlich und zeigen Schweikerts Begabung, intensivste Emotionen wiederzugeben. Die Beengtheit der Krankensäle, die entsetzlichen Krankheiten und Seuchen, die fast nicht vorhandene Belüftung, die Dunkelheit der Flure – und darin Menschen, die das tun, was in ihrer Macht steht, zu lindern und Leben zu retten.  Die Mischung zwischen wissenschaftlichen Entwicklungen und Erkenntnissen der damaligen Zeit und den persönlichen Erlebnissen der Protagonisten ist ausgewogen und lässt nicht los. Auch Liebesbeziehungen werden eindringlich geschildert, oft sind Verzweiflung und Enttäuschung den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldet.  Die Handlung wird vorangetrieben. Dichtung und Wahrheit sind hier ausgewogen, die Beweggründe und Befindlichkeiten der Persönlichkeiten die damals lebten, überzeugen – ja, so könnte es gewesen sein, denken sich die Leser. Schweikert geht darauf näher in ihrem Nachwort ein und benennt viele ihrer Quellen.
Es sind zu Herzen gehende Geschichten, die diesen Roman ausmachen und uns in ihrer klugen Verflechtung einen Zeitspiegel vorhalten, der uns berührt, zum Staunen bringt, manchmal auch bis an die Grenzen des Erträglichen führt – so - wenn die verschiedenen Stationen der Charité vorgeführt werden, die uns das ganze Elend der kranken und gequälten Patienten vorführt. Das Ringen der Ärzte um die richtigen Therapien, ihre oft verzweifelte Suche danach. Die Medizin ist einen weiten Weg gegangen, einen schweren Weg, der Opfer forderte auf Seiten der Patienten und der Ärzte.
Es ist ein Buch, das  berührt und dankbar stimmt, dass wir nicht in dieser Zeit leben mussten. Was Menschen leisteten, die Arbeiter, die Bürger, die Bauern, die Wissenschaftler, auch manche Politiker – sie werden hier lebendig gemacht. Der Medizin wird hier ein weiteres lebendiges Denkmal gesetzt, dem ich viele Leserinnen und Leser wünsche.