ein neuer Roman am Bücherhimmel - diesmal über die Medizin - spannend und anregend -
DIE CHARITÈ
„Die Tage waren so angefüllt mit
Arbeit und Entscheidungen. Sie lief treppauf, treppab, trug Essen hin und her,
schleppte Wasser, wechselte Verbände und wusch Patienten. Sie half bei
Operationen und wachte bei Sterbenden, erlebte Schmerz und Trauer,
Verzweiflung, aber auch Glück und Erleichterung.“ Dieses Zitat von S. 421
stelle ich hier an den Anfang, es beschreibt sehr gut den Alltag und mehr der
Krankenwärterinnen und –wärter der Charité, wie sie damals genannt wurden.
Vor der authentischen Kulisse der
Stadt Berlin von 1831 und den
Folgejahren entwickelt Schweikert ihr faszinierendes Bild der damaligen Zeit.
Nicht nur um die Charité allein geht es in dieser fesselnden Geschichte. Viele Persönlichkeiten haben ihren Auftritt oder
werden namentlich erwähnt wie z. B. der Dichter Heinrich Heine, dann Napoleon
Bonaparte, der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Minister von Stein,
dessen Reformen die finanziellen Verhältnisse der Charité empfindlich stören,
die Brüder Humboldt, Rahel Varnhagen und nicht zuletzt Friedrich Wilhelm III. All
diese Erwähnungen tragen dazu bei, dass das Szenario lebendig und echt
erscheint. Sie alle spielen mit in dieser Versammlung von Persönlichkeiten, die
den Hintergrund bilden für die Geschichten
aus dem Leben der Protagonisten, die
hier die Handlung vorantreiben und „Sternstunden der Medizin“ erleben dürfen. Die
politischen Verhältnisse werden angerissen.
Wie die Menschen vor dieser Kulisse handeln, durch die Umstände
gezwungen, wird eindringlich dargestellt. Da ist Prof. Dieffenbach, ein
hervorragender Chirurg seiner Zeit, der vielen Menschen half, Gesichtsentstellungen wie Hasenscharte oder
Wolfsrachen zu normalisieren. Er war auch Vorreiter der Augenoperation beim
Schielen und anderer mehr. Er teilt ein Geheimnis mit der Hebamme Vogelsang,
die aus ärmlichsten und leidvollen Verhältnissen das Ihre tut, das Leiden armer
schwangerer Frauen zu lindern. Elisabeth, ihre Freundin, wird Krankenwärterin
in der Charité. Umgeben von anderen Wärterinnen, die mitleidlos und ohne
Fachkenntnis roh die Kranken versorgen, zeigt sie sich bald als
herausragende Wärterin, die ihre Kritik
an den Verhältnissen nicht versteckt,
sondern mutig vertritt. Ihr größter Wunsch, selbst Ärztin zu werden, lässt die
Zeit, in der sie lebt, nicht zu. Sie besitzt bald eine Vorrangstellung durch
ihr auffallendes Engagement, das ihr oft den Neid und die Missgunst anderer
Wärterinnen einträgt. Diese Wärterinnen sind hauptsächlich unausgebildete
Frauen und Männer mit geringer Schulbildung, die den Patienten anstatt mit
Empathie mit grobem und herzlosem Jargon entgegentreten.
Aus Elisabeths Vorschlägen und Gesprächen Professor Dieffenbachs mit seiner
Patientin und Freundin Gräfin Ludovica, reift der Plan, eine Krankenwärter Pflegeschule
zu gründen und Personal mit Fachkenntnissen zu auszubilden.
Manche Szenen und Beschreibungen
der vergangenen Verhältnisse der medizinischen Forschung lassen einen schaudern
und fragen, wie haben es Patienten sowie ihre Ärzte und Wärterinnen bloß
ertragen können? Die Beschreibungen der Operationen ohne Narkose! im Hörsaal
vor den Studenten erinnern an alte Gemälde, besonders an das von Rembrandt „The
Anatomy Lesson of Dr. Nicolaes Tulp“. Mehrere starke Männer, Arztkollegen, hielten die Patienten fest, damit die
Chirurgen die Schnitte ausführen konnten. Die Intensität der Darstellungen vom
Vorgehen der Ärzte und Krankenwärter zur Zeit des damaligen Standes der Medizin
sind meisterlich und zeigen Schweikerts Begabung, intensivste Emotionen
wiederzugeben. Die Beengtheit der Krankensäle, die entsetzlichen Krankheiten
und Seuchen, die fast nicht vorhandene Belüftung, die Dunkelheit der Flure –
und darin Menschen, die das tun, was in ihrer Macht steht, zu lindern und Leben
zu retten. Die Mischung zwischen
wissenschaftlichen Entwicklungen und Erkenntnissen der damaligen Zeit und den
persönlichen Erlebnissen der Protagonisten ist ausgewogen und lässt nicht los. Auch
Liebesbeziehungen werden eindringlich geschildert, oft sind Verzweiflung und
Enttäuschung den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldet. Die Handlung wird vorangetrieben. Dichtung
und Wahrheit sind hier ausgewogen, die Beweggründe und Befindlichkeiten der
Persönlichkeiten die damals lebten, überzeugen – ja, so könnte es gewesen sein,
denken sich die Leser. Schweikert geht darauf näher in ihrem Nachwort ein und
benennt viele ihrer Quellen.
Es sind zu Herzen gehende
Geschichten, die diesen Roman ausmachen und uns in ihrer klugen Verflechtung
einen Zeitspiegel vorhalten, der uns berührt, zum Staunen bringt, manchmal auch
bis an die Grenzen des Erträglichen führt – so - wenn die verschiedenen
Stationen der Charité vorgeführt werden, die uns das ganze Elend der kranken
und gequälten Patienten vorführt. Das Ringen der Ärzte um die richtigen
Therapien, ihre oft verzweifelte Suche danach. Die Medizin ist einen weiten Weg
gegangen, einen schweren Weg, der Opfer forderte auf Seiten der Patienten und
der Ärzte.
Es ist ein Buch, das berührt und dankbar stimmt, dass wir nicht in
dieser Zeit leben mussten. Was Menschen leisteten, die Arbeiter, die Bürger,
die Bauern, die Wissenschaftler, auch manche Politiker – sie werden hier
lebendig gemacht. Der Medizin wird hier ein weiteres lebendiges Denkmal
gesetzt, dem ich viele Leserinnen und Leser wünsche.