3.
Kapitel Teil 2
Amina
entdeckt Arnulf im Stall
Tief
in ihrem Gedächtnis vergrabene Bilder tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Ein
Mann im Sand, brutal niedergeschlagen vor dem Stallzelt, das rechte Auge
zugeschwollen, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt durch die dunkle
offene Mundhöhle, geronnenes Blut auf der blauen Seidenweste. Sie selbst hinten
an die dunkle Zeltwand gekauert, unbemerkt von den skrupellosen Mördern ihres
Vaters. Die Räuber ziehen ihren Vater weg von der Stelle, schreien sich
gegenseitig an:
„Schnell, worauf wartet ihr noch, wollt ihr
das ganze Dorf aufwecken, weg von hier, bevor sie uns sehen.“
Sie
zerren den schweren Körper mit sich, verschwinden im Wald, haben Amina nicht
entdeckt. Nie hat sie Tiere so furchtbar schreien gehört wie an diesem Morgen.
Die Bilder sind nicht verblasst, alles ist, als ob es gestern war. Nie mehr hat
sie ihren Vater gesehen, der dunkle dichte Wald der Karpaten wurde seine letzte
Ruhestätte.
Hier
liegt der Herr von Eden, der böse Arnulf, nicht ihr Vater. Die Gedanken rasen
durch ihren Kopf, während sie dasteht, die Hände um ihren Körper geschlungen,
wie zum Schutz. Ihre Starre löst sich, sie geht ein paar Schritte rückwärts,
dreht sich um, rennt zur Tür, hetzt über den großen Hof. In meine Kammer muss
ich und dann fort, einfach fortgehen. Ein Ruf stoppt sie, es ist Babette, Frau
von Edens Kammerfrau. Amina sieht, wie sie im Eingang des Herrenhauses steht,
Arme herausfordernd in die Seiten gestützt, den Mund geringschätzig verzogen,
so wie sie immer Amina anschaut. Mit ihrer hohen Stimme befiehlt sie:
„Die
Herrin ruft nach dir, beeil dich Amina.“
Sie zieht eine verächtliche Grimasse,
wiederholt:
„Komm
schon, du weißt, die Herrin will nicht warten.“
Amina
folgt Babette ins Herrenhaus, den langen Gang entlang, die Treppe hoch, zu den
Schlafgemächern. Babette klopft an, öffnet, macht einen Knicks, schiebt Amina
in den Vorraum hinein. Amina nimmt die Melkschürze ab, Stallgeruch passt nicht
in das feine Ankleidezimmer der Herrin.
„Lass, Amina!“, klingt herrisch Frau von Edens
Stimme, „komm rein, ich weiß ja, dass du heute Morgen wieder die Magd vertreten
hast. Du bist fleißig, da stört ein wenig Stallgeruch nicht. Im Gegenteil, es
zeigt, dass du keine Arbeit scheust. Das habe ich in dem Jahr, seit du bei uns
bist, wohl gemerkt.“
Sie
zögert, fährt dann in bestimmtem Ton fort:
„Trotzdem
ist nicht alles so glatt gegangen, wie ich es wünsche in meinem Haus. Amina, du
störst hier. In diesen unruhigen Zeiten will ich mich nicht auch noch mit
Dienstbotengezänk befassen. Ich höre ja, wie Babette und du zanken. Der
Kutscher wird dich zu meiner Schwester nach Gelnhausen bringen. Sie ist
schwanger und braucht Hilfe. Also pack deine Sachen. Geh jetzt!“
Sie
wendet sich dem Spiegel zu.
„Babette,
komm und richte mein Haar, Frau von Glasenapp macht mir nachher die
Aufwartung.“
Babette
tritt hinter sie und beginnt, ihr Haar zu bürsten.
„Au, nicht so fest, gib doch acht!“, faucht
sie und schlägt nach ihr. Amina ist fassungslos, hat sie richtig gehört? Ja,
wieder hört sie Frau von Edens Stimme wie von weither:
“Was
stehst du hier noch, mach schon. Je schneller, umso besser. Ich will dir noch
eine Ladung Wein für meine Schwester und Stoff mitgeben, das neue Kindchen
braucht Kleidung.“
Sie
blickt in den Spiegel, dreht und wendet den Kopf.
„Gut
so, Babette“,
und vergisst Amina.
Wie
betäubt verlässt Amina das Zimmer. Am Ende des Ganges lehnt sie sich gegen die
Wand, denkt an den Herrn, der tot im Stall liegt, mit grünem Schaum vor dem
Mund. Ich kann es der Herrin nicht sagen. Sie wird mich nicht mehr zu ihrer
Schwester schicken wollen. Abschieben
will sie mich, loswerden. Ich bin hier jetzt ein Störenfried geworden. Klar,
Babette hat es geschafft, mich bei der Herrin anzuschwärzen. Sie hat ja die älteren
Rechte. Nur Anna war immer nett zu mir, hat mich sogar manchmal gegen Babette
verteidigt.
Dann
denkt sie an die vielen Male, als der Herr ihr nachgestiegen ist, wenn sie im
Garten die Erdbeeren pflückte, seine gierigen Hände auf ihren Brüsten fühlte,
oder wenn sie die Leiter am Apfelbaum hochstieg, wie er plötzlich hinter dem
Baum hervorkam, sie an den Beinen festhielt und seine Hände an ihnen
hochgleiten ließ. Wie oft hat sie sich gewünscht, dass er tot sein möge, nun
ist es geschehen.
Ich
muss weglaufen. Ich lasse mich nicht in den Turm sperren, in den sie alle
Frauen werfen, die sie verdächtigen, die sie Hexen nennen. Ich werde wieder auf
der Straße sein, ich werde bestimmt nicht auf den Kutscher warten und in ein
fremdes Haus gehen, wo neue Wölfe von Männern auf mich lauern werden. Wenn sie den Herrn finden, werden sie mich
gleich verdächtigen. Beeil dich, Amina, geh und packe, dann bist du wieder
vogelfrei. Oh, Mama, oh Papa, wenn ihr wüsstet, immer wieder bin ich unterwegs,
so wie ihr es wart. Steht mir bei. Ihre Gedanken kreisen wie im Fieber. Ich
kann nach Kahl gehen und dann zum Main, dort die Fähre nach Seligenstadt
nehmen. Wenn bloß keine Soldaten unterwegs sind, sonst wird’s gefährlich. Die
sind jetzt überall. Im Wald kann ich mich verstecken. Wenn ich erst in
Seligenstadt bin, kann ich im Kloster anklopfen, da kenne ich die Mönche.
Obwohl es heißt, dass nur noch zwei oder drei da sind. Alle andern sind
geflohen. Sie werden mich hoffentlich nicht wegschicken, weil ich eine Frau
bin. Sie hebt die Hand, schlägt sie leicht gegen die Stirn. Ich verkleide mich
als Mann, ja, das werde ich tun, niemand wird mich als Frau erkennen. Oh, und
Marco, Marco, ihn muss ich verlassen und werde ihn nie mehr sehen. Ohne Marco,
wie kann ich das aushalten?
Marco,
mein Halt, meine Liebe, ohne ihn wäre alles noch viel unerträglicher gewesen.
Sie
atmet tief, nimmt die Schultern nach hinten, eilt den Gang entlang zur Haustür,
betritt den Hof.
Hannah
schaut gerade aus der Küchentür, eine graue Zopfkrone umrahmt ihr altes
Gesicht, freundlich lächeln blaue Augen aus den Fältchen.
„Amina!“,
ruft sie, „warum rennst du so? Wohin? Komm, trink was Warmes.“
Amina
stoppt im Laufen, sie kann nicht einfach so an Hannah vorbeigehen, Hannah, die
fast wie eine Mutter für sie ist. Sie findet immer Trost in Hannahs Armen, dort
hat sie so oft geweint. Angst schüttelt ihren Körper, Angst, dass die Leute
sagen würden, sie hätte es getan, sie hätte ihn vergiftet, sie, die sich
auskennt mit Kräutern. Hannah sieht
gleich, dass etwas nicht stimmt, sie führt Amina zur Bank am großen
Eichentisch. „Setz dich hin, Kind.“
Sie
füllt warme Milch aus dem Eisentopf in einen Holzbecher, lässt Honig
hineinlaufen, stellt Amina den Becher hin, streicht ihr übers Haar.
„Trink,
mein Kind.“
Sie
setzt sich zu ihr. Amina weint, stockend berichtet sie, was sie gesehen hat.
„Der
hat gekriegt, was er verdient, der mit seinem Schandmaul“, murmelt Hannah. Sie
bekreuzigt sich, nachdem sie die bösen Worte ausgestoßen hat. Amina trinkt
langsam die Milch.
„Hannah,
ich muss weg, gleich, bevor sie ihn finden“, stößt sie hervor.
„Sie
werden mich beschuldigen, sie denken doch sowieso, dass ich eine Hexe bin, ich,
die Fremde. Die Herrin will mich fortschicken zu ihrer Schwester nach
Gelnhausen, das hat sie mir gerade gesagt, da ist es noch schlimmer mit der
Hexenjagd. Sie redet zwar, ihre Schwester braucht Hilfe, es ist aber Babette,
die sie beeinflusst. Sie hört auf sie, sie hat die älteren Rechte. Von Anfang an konnte sie mich nicht leiden.“
Hannah
schüttelt den Kopf.
„Kind,
Kind, wie leid mir das tut. Du bist mir so ans Herz gewachsen, ich werde dich
vermissen. Allein unterwegs, in diesen schrecklichen Zeiten. Warum gehst du
nicht zu Frau von Edens Schwester, es ist besser, als allein unterwegs zu sein.
Amina, ich kann meines Lebens nicht mehr froh werden, wenn dir etwas geschieht.
Du bist mir wie eine Tochter.“
„Hannah, nein, ich kann nicht zu der Schwester
gehen. Sie ist hochfahrend und böse. Frau von Eden ist nicht böse, sie ist
selbst unglücklich und sie ist gleichgültig. Aber die Schwester, die ist ein
Ungeheuer. Da bin ich auch nicht sicher!“
„Ach,
Amina, ja, aber du hast wenigstens ein Dach über dem Kopf!“
Sie
legt Amina die Hand beschwichtigend auf die Schulter. Dann zeichnet sie ihr ein
Kreuz auf die Stirn. Amina schluckt heftig.
„Hannah,
besser frei als unter einem Dach zu leben, wo ich nicht besser bin als eine
Sklavin! Danke, Hannah, du warst immer gut zu mir, du hast mir hier sehr
geholfen, seit ich da bin. Ich weiß, du wirst niemandem etwas sagen.“
„Gott
beschütze dich, mein Kind!“
Hannah
umarmt Amina fest, segnet und küsst sie.
Amina
löst sich aus der Umarmung, dreht sich zur Tür, verlässt die Küche, eilt über
den Hof zu ihrer Kammer.
„Keine Tränen mehr, nur keine Tränen“, spricht
sie vor sich hin.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen