4. Kapitel
Teil 1
Amina flieht
Sie steigt die enge Treppe zu dem kleinen Verschlag
hoch, nicht mehr als das ist ihre Kammer. Dämmrig und karg wie sie ist, war sie
doch ihr Zuhause, das sie jetzt verlassen muss. In ihrem Kopf wirbeln die Gedanken.
Der Anblick des Herrn im Stall lässt sie nicht los. Ich muss mich jetzt
konzentrieren, damit ich nichts vergesse. Alles muss schnell gehen, ich darf
nicht rasten.
Sie reißt die Schürze herunter, hängt sie an den Nagel
an der Wand. Mit ihrem Messer, noch von ihrer Mutter, schneidet sie ihr langes
dunkles Haar bis über die Ohren ab. Die Büschel wird sie später unterwegs
vergraben. Niemandem soll ihr Haar in die Hände fallen und damit die Möglichkeit
geben, einen Fluch über sie zu bringen.
Sie wickelt ein Stück Stoff fest über Brust und Rücken und befestigt es
mit der bronzenen Brosche ihrer Mutter, die einer Fibel ähnelt. Über die braune
Bauernbluse zieht sie eine graue Filzweste. Den Rock tauscht sie mit der
schwarzen Hose, mit der sie herkam. Die Strümpfe rollt sie über ihre schmalen
Füße und schlanken Beine. Ihre Stiefel warten im Spind, sie schleudert die
plumpen verhassten Holzschuhe von sich, die sind für Bauern, nicht für
sie. Die Stiefel sind gerade richtig für
den langen Weg, den sie vor sich hat. Sie holt alles aus dem Spind, was sie
besitzt, nimmt den braunen Ledersack, die dunkelrote Kappe des Vaters, eine
graue Bluse, ein Unterkleid und zwei Bruchen*.
In einem Leinensäckchen stecken drei Silbergulden und vier Schillinge,
sowie die kleine goldene Hand der
Fatima, die sie von ihrer Mutter bekommen hat. Es ist eine fein ziselierte
Arbeit, ein wunderbares und mit Erinnerungen besetztes Schmuckstück. Es hat sie
bis jetzt beschützt und wird es auch weiter tun. Sie küsst das kleine Amulett
und steckt es tief unten in den Sack. Ihre schöne Mutter. Das kalte Klima in
der Nordtürkei hat sie mit der Lungenentzündung zugrunde gerichtet, sie konnte
nicht gerettet werden. Selbst ihr Vater, der die Heilkräfte der Sinti besaß,
war machtlos gegen diese tückische Krankheit. Ach Mama, Mama, sende mir deine
Engel, betet Amina. Nicht weinen, bloß nicht weinen, spricht sie sich wieder
Mut zu. Die Mönche im Kloster werden mir nichts tun. Auch wenn überall Soldaten
sind, Gustav Adolfs Truppen, ich muss es wagen, alles ist besser als der Hexenturm.
Auch wenn das Kloster ausgeplündert ist, kann ich mich da vielleicht verstecken,
bevor ich weiterziehe. David hat mir doch erzählt, dass noch Novizen im Kloster
sind, vielleicht brauchen sie Hilfe in der Wäscherei. Das Leinensäckchen mit
dem Geld hängt sie sich um und steckt es in die Brustbinde. Und obenauf in den
Sack legt sie noch den Holzlöffel. Ein Löffel ist immer gut.
*Unterhosen
Amina nimmt den Ledersack und geht vorsichtig, aber
schnell die Treppe hinunter. Sie macht große Schritte über die dritte und
sechste Stufe, die knarren immer so. Niemand ist im Haus unterwegs. Ich muss
mich beeilen. Wenn sie merken, dass ich nicht mehr da bin, werden sie nach mir
suchen, denkt sie wieder. Sie werden mich als Erste verdächtigen. Oh, ich kann
nicht in den Hexenturm, sie werden mich foltern, ich halte es nicht aus. Die
Gedanken rasen durch ihren Kopf. Immer wieder denkt sie daran, dass sie sich
von Marco trennen muss. Nur ihm, Hannah und David kann ich hier vertrauen. Sie
nimmt den Weg zum Garten. Im Gartenhaus hat Marco seine Werkstatt, er schläft
auch dort. Vorsichtig eilt sie hinter dem Haus entlang, bis sie die
Gartenpforte erreicht. Zum Glück wurde sie kürzlich geölt, sie quietscht nicht,
als sie sie aufdrückt. Sie schleicht sich mit dem Rücken an der Hecke entlang,
klopft an die Tür mit dem verabredeten Zeichen, einmal, dann Pause, dann
zweimal. Marco öffnet die Tür, er ist immer früh wach. Er hält einen Pinsel mit
roter Farbe in der Hand. Seine graue Hose hat Farbflecken, sein blaues
besticktes Hemd auch. Seine zusammengebundenen dunklen Haare glänzen. Als er
Amina sieht, strahlen seine Augen, er legt den Pinsel auf die Palette, um sie
zu umarmen. Er malt an einem Sonnenaufgang, dem Bild auf seiner Staffelei.
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