Samstag, 7. Februar 2015



3. Kapitel Teil 2
Amina entdeckt Arnulf im Stall

Tief in ihrem Gedächtnis vergrabene Bilder tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Ein Mann im Sand, brutal niedergeschlagen vor dem Stallzelt, das rechte Auge zugeschwollen, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt durch die dunkle offene Mundhöhle, geronnenes Blut auf der blauen Seidenweste. Sie selbst hinten an die dunkle Zeltwand gekauert, unbemerkt von den skrupellosen Mördern ihres Vaters. Die Räuber ziehen ihren Vater weg von der Stelle, schreien sich gegenseitig an:
 „Schnell, worauf wartet ihr noch, wollt ihr das ganze Dorf aufwecken, weg von hier, bevor sie uns sehen.“
Sie zerren den schweren Körper mit sich, verschwinden im Wald, haben Amina nicht entdeckt. Nie hat sie Tiere so furchtbar schreien gehört wie an diesem Morgen. Die Bilder sind nicht verblasst, alles ist, als ob es gestern war. Nie mehr hat sie ihren Vater gesehen, der dunkle dichte Wald der Karpaten wurde seine letzte Ruhestätte.

Hier liegt der Herr von Eden, der böse Arnulf, nicht ihr Vater. Die Gedanken rasen durch ihren Kopf, während sie dasteht, die Hände um ihren Körper geschlungen, wie zum Schutz. Ihre Starre löst sich, sie geht ein paar Schritte rückwärts, dreht sich um, rennt zur Tür, hetzt über den großen Hof. In meine Kammer muss ich und dann fort, einfach fortgehen. Ein Ruf stoppt sie, es ist Babette, Frau von Edens Kammerfrau. Amina sieht, wie sie im Eingang des Herrenhauses steht, Arme herausfordernd in die Seiten gestützt, den Mund geringschätzig verzogen, so wie sie immer Amina anschaut. Mit ihrer hohen Stimme befiehlt sie:
„Die Herrin ruft nach dir, beeil dich Amina.“
 Sie zieht eine verächtliche Grimasse, wiederholt:
„Komm schon, du weißt, die Herrin will nicht warten.“
Amina folgt Babette ins Herrenhaus, den langen Gang entlang, die Treppe hoch, zu den Schlafgemächern. Babette klopft an, öffnet, macht einen Knicks, schiebt Amina in den Vorraum hinein. Amina nimmt die Melkschürze ab, Stallgeruch passt nicht in das feine Ankleidezimmer der Herrin.

 „Lass, Amina!“, klingt herrisch Frau von Edens Stimme, „komm rein, ich weiß ja, dass du heute Morgen wieder die Magd vertreten hast. Du bist fleißig, da stört ein wenig Stallgeruch nicht. Im Gegenteil, es zeigt, dass du keine Arbeit scheust. Das habe ich in dem Jahr, seit du bei uns bist, wohl gemerkt.“
Sie zögert, fährt dann in bestimmtem Ton fort:
„Trotzdem ist nicht alles so glatt gegangen, wie ich es wünsche in meinem Haus. Amina, du störst hier. In diesen unruhigen Zeiten will ich mich nicht auch noch mit Dienstbotengezänk befassen. Ich höre ja, wie Babette und du zanken. Der Kutscher wird dich zu meiner Schwester nach Gelnhausen bringen. Sie ist schwanger und braucht Hilfe. Also pack deine Sachen. Geh jetzt!“
Sie wendet sich dem Spiegel zu.
„Babette, komm und richte mein Haar, Frau von Glasenapp macht mir nachher die Aufwartung.“
Babette tritt hinter sie und beginnt, ihr Haar zu bürsten.
 „Au, nicht so fest, gib doch acht!“, faucht sie und schlägt nach ihr. Amina ist fassungslos, hat sie richtig gehört? Ja, wieder hört sie Frau von Edens Stimme wie von weither:
“Was stehst du hier noch, mach schon. Je schneller, umso besser. Ich will dir noch eine Ladung Wein für meine Schwester und Stoff mitgeben, das neue Kindchen braucht Kleidung.“
Sie blickt in den Spiegel, dreht und wendet den Kopf.
„Gut so, Babette“, und vergisst Amina.
Wie betäubt verlässt Amina das Zimmer. Am Ende des Ganges lehnt sie sich gegen die Wand, denkt an den Herrn, der tot im Stall liegt, mit grünem Schaum vor dem Mund. Ich kann es der Herrin nicht sagen. Sie wird mich nicht mehr zu ihrer Schwester schicken wollen.  Abschieben will sie mich, loswerden. Ich bin hier jetzt ein Störenfried geworden. Klar, Babette hat es geschafft, mich bei der Herrin anzuschwärzen. Sie hat ja die älteren Rechte. Nur Anna war immer nett zu mir, hat mich sogar manchmal gegen Babette verteidigt.

Dann denkt sie an die vielen Male, als der Herr ihr nachgestiegen ist, wenn sie im Garten die Erdbeeren pflückte, seine gierigen Hände auf ihren Brüsten fühlte, oder wenn sie die Leiter am Apfelbaum hochstieg, wie er plötzlich hinter dem Baum hervorkam, sie an den Beinen festhielt und seine Hände an ihnen hochgleiten ließ. Wie oft hat sie sich gewünscht, dass er tot sein möge, nun ist es geschehen.

Ich muss weglaufen. Ich lasse mich nicht in den Turm sperren, in den sie alle Frauen werfen, die sie verdächtigen, die sie Hexen nennen. Ich werde wieder auf der Straße sein, ich werde bestimmt nicht auf den Kutscher warten und in ein fremdes Haus gehen, wo neue Wölfe von Männern auf mich lauern werden.   Wenn sie den Herrn finden, werden sie mich gleich verdächtigen. Beeil dich, Amina, geh und packe, dann bist du wieder vogelfrei. Oh, Mama, oh Papa, wenn ihr wüsstet, immer wieder bin ich unterwegs, so wie ihr es wart. Steht mir bei. Ihre Gedanken kreisen wie im Fieber. Ich kann nach Kahl gehen und dann zum Main, dort die Fähre nach Seligenstadt nehmen. Wenn bloß keine Soldaten unterwegs sind, sonst wird’s gefährlich. Die sind jetzt überall. Im Wald kann ich mich verstecken. Wenn ich erst in Seligenstadt bin, kann ich im Kloster anklopfen, da kenne ich die Mönche. Obwohl es heißt, dass nur noch zwei oder drei da sind. Alle andern sind geflohen. Sie werden mich hoffentlich nicht wegschicken, weil ich eine Frau bin. Sie hebt die Hand, schlägt sie leicht gegen die Stirn. Ich verkleide mich als Mann, ja, das werde ich tun, niemand wird mich als Frau erkennen. Oh, und Marco, Marco, ihn muss ich verlassen und werde ihn nie mehr sehen. Ohne Marco, wie kann ich das aushalten?
Marco, mein Halt, meine Liebe, ohne ihn wäre alles noch viel unerträglicher gewesen.
Sie atmet tief, nimmt die Schultern nach hinten, eilt den Gang entlang zur Haustür, betritt den Hof.

Hannah schaut gerade aus der Küchentür, eine graue Zopfkrone umrahmt ihr altes Gesicht, freundlich lächeln blaue Augen aus den Fältchen.
„Amina!“, ruft sie, „warum rennst du so? Wohin? Komm, trink was Warmes.“
Amina stoppt im Laufen, sie kann nicht einfach so an Hannah vorbeigehen, Hannah, die fast wie eine Mutter für sie ist. Sie findet immer Trost in Hannahs Armen, dort hat sie so oft geweint. Angst schüttelt ihren Körper, Angst, dass die Leute sagen würden, sie hätte es getan, sie hätte ihn vergiftet, sie, die sich auskennt mit Kräutern.  Hannah sieht gleich, dass etwas nicht stimmt, sie führt Amina zur Bank am großen Eichentisch. „Setz dich hin, Kind.“
Sie füllt warme Milch aus dem Eisentopf in einen Holzbecher, lässt Honig hineinlaufen, stellt Amina den Becher hin, streicht ihr übers Haar.
„Trink, mein Kind.“
Sie setzt sich zu ihr. Amina weint, stockend berichtet sie, was sie gesehen hat.
„Der hat gekriegt, was er verdient, der mit seinem Schandmaul“, murmelt Hannah. Sie bekreuzigt sich, nachdem sie die bösen Worte ausgestoßen hat. Amina trinkt langsam die Milch.
„Hannah, ich muss weg, gleich, bevor sie ihn finden“, stößt sie hervor.
„Sie werden mich beschuldigen, sie denken doch sowieso, dass ich eine Hexe bin, ich, die Fremde. Die Herrin will mich fortschicken zu ihrer Schwester nach Gelnhausen, das hat sie mir gerade gesagt, da ist es noch schlimmer mit der Hexenjagd. Sie redet zwar, ihre Schwester braucht Hilfe, es ist aber Babette, die sie beeinflusst. Sie hört auf sie, sie hat die älteren Rechte. Von  Anfang an konnte sie mich nicht leiden.“
Hannah schüttelt den Kopf.
„Kind, Kind, wie leid mir das tut. Du bist mir so ans Herz gewachsen, ich werde dich vermissen. Allein unterwegs, in diesen schrecklichen Zeiten. Warum gehst du nicht zu Frau von Edens Schwester, es ist besser, als allein unterwegs zu sein. Amina, ich kann meines Lebens nicht mehr froh werden, wenn dir etwas geschieht. Du bist mir wie eine Tochter.“
 „Hannah, nein, ich kann nicht zu der Schwester gehen. Sie ist hochfahrend und böse. Frau von Eden ist nicht böse, sie ist selbst unglücklich und sie ist gleichgültig. Aber die Schwester, die ist ein Ungeheuer. Da bin ich auch nicht sicher!“
„Ach, Amina, ja, aber du hast wenigstens ein Dach über dem Kopf!“
Sie legt Amina die Hand beschwichtigend auf die Schulter. Dann zeichnet sie ihr ein Kreuz auf die Stirn. Amina schluckt heftig.
„Hannah, besser frei als unter einem Dach zu leben, wo ich nicht besser bin als eine Sklavin! Danke, Hannah, du warst immer gut zu mir, du hast mir hier sehr geholfen, seit ich da bin. Ich weiß, du wirst niemandem etwas sagen.“
„Gott beschütze dich, mein Kind!“
Hannah umarmt Amina fest, segnet und küsst sie.
Amina löst sich aus der Umarmung, dreht sich zur Tür, verlässt die Küche, eilt über den Hof zu ihrer Kammer.
 „Keine Tränen mehr, nur keine Tränen“, spricht sie vor sich hin.

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